Blockchain, technologischer Treiber des Claims Management?
Juli 1, 2018
Aus dem Unterricht des CAS Digital Insurance mit Rolf Günter berichtet Thomas von Gunten.
Das Claims Management erhält im Versicherungsgeschäft eine zentrale Bedeutung: Die Schadenserledigung stellt das Einlösen des bei Vertragsabschluss abgegebenen Leistungsversprechens dar. Ein Blick auf die Zahl der Start-Up-Unternehmen unterstreicht die Wichtigkeit des Claims Management zusätzlich. Das klassische Schadendreieck wird um mehrere Aspekte erweitert: Strategie, Prozesse, Technologie und Fähigkeiten. Betrachten wir schliesslich noch das Geschäftsmodell der Versicherung: Prämien + Kapitalerträge – Schadenaufwand/-kosten. Künftig wird sich der Druck auf die Prämien verstärken und die Anlagerenditen könnten sinken und somit die Einnahmenseite schwächen. Dies kann durch Optimierung der Schadenkosten und der Schadenverwaltungskosten kompensiert werden.
Vor diesem Hintergrund kommt der Blockchain Technologie eine wichtige Bedeutung zu. Sie ist nicht zur Lösung aller Probleme geeignet. Für einzelne Fragestellungen ist sie auch gänzlich ungeeignet. Richtig eingesetzt hilft die Technologie, Ökosysteme effizienter werden zu lassen. Davon ausgehend, dass sich die Schadenabwicklung zunehmend in Ökosystemen abspielt, kann der Einsatz von Smartcontracts basierend auf Blockchain Technologie erheblich zu Effizienz und Transparenz beitragen. Rolf Günter führte uns in seinem kompetenten Referat an der HWZ Digital Insurance systematisch zu dieser Schlussfolgerung.
Eine Versicherung gibt beim Vertragsabschluss ein Versprechen ab. Die Versicherung geniesst in diesem Augenblick das Vorschussvertrauen des Kunden. Dieser entwickelt entsprechend hohe Erwartungen. Trifft ein Schaden ein, muss der Versicherer sein Leistungsversprechen einhalten. Jetzt gilt es, das Vertrauen zu bestätigen und die Erwartungen mindestens zu erfüllen. Es ist der Moment der Wahrheit oder “The Magic Moment!”
Dies verdeutlicht die Bedeutung der Schadenerledigung. Müsste sich dies nicht in der Vertretung der Schadenchefs in den Geschäftsleitungen widerspiegeln? Die Realität ist diesbezüglich ernüchternd. Noch. Vielleicht wird sich dies ändern.
Die von Swisscom publizierte Start-up Map wies im Februar 2017 im Bereich Swiss FinTech 192 Start-ups aus. Dies ist beeindruckend, selbst wenn wir berücksichtigen, dass einzelne Unternehmen ihren Platz auf der Map nicht hingegen auf dem Markt behalten haben. Noch beeindruckender ist die Zunahme der Start-ups. Die Map vom Juni 2018 weist bereits 250 Unternehmen auf, was einem Plus von 30 Prozent innert 16 Monaten entspricht. Viele Start-ups bewegen sich im Bereich der Kryptotechnologien.
Bestehende Unternehmen müssen dementsprechend vorausschauen und sie tun dies selbstverständlich auch. Doch können sie auch angemessen darauf reagieren? Die zahlreichen Veranstaltungen, in denen um Investoren geworben wird, zeugen von einer beeindruckenden Ideenvielfalt. Allerdings sind nicht alle Geschäftsmodelle so disruptiv, wie deren Erfinder dies gerne hätten.
Bei Spekulationen über einen allfälligen Markteintritt der Techgiganten sollte bedacht werden, dass es ein Eintritt in einen Markt mit sinkenden Margen wäre. Andererseits beherrschen die grössten IT-Firmen die Verarbeitung grosser Datenmengen. Es ist also naheliegend, dass die Grossen der Datenverarbeitungsbranche auch ihre Rolle im Versicherungsbusiness finden und ihren Platz beanspruchen werden.
Technologie wird also eine wichtigere Rolle spielen. Der Automatisierungsgrad wird sich generell erhöhen. Dies wird sich auf Broker, Anwälte und andere Berufe und Tätigkeiten auswirken, welche heute manuell ausgeführt werden. Es werden Jobs verschwinden, neu dazu kommen oder sich verändern. Die Stelleninhaber müssen neue Kompetenzen mitbringen, z.B. im Claims Management. Vor allem die interdisziplinäre Denkfähigkeit wird wichtiger werden. So sollten beispielsweise Juristen über IT-Kenntnisse verfügen und umgekehrt.
Ein gedanklicher Seitenwechsel von der Versicherungssicht zur Kundensicht erfordert entsprechend konsequentes Handeln. Zwar ist die strategische Verankerung der Kundenorientierung sehr begrüssenswert und bei vielen Versicherungen beobachtbar. Dennoch kommt es vor, dass beispielsweise Entwicklungen realisiert werden, die den Kunden verwirren oder enttäuschen, wie etwa eine fehlende oder nicht konsequent umgesetzte Ein-App-Strategie.
Der Druck auf die Versicherungen dürfte künftig zunehmen und dazu beitragen, dass Versicherungen konsequenter nach Innovationen suchen und die Fähigkeiten entwickeln, neue Wege zu beschreiten. Dabei ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit: Es ist nicht trivial, Brücken zwischen innovativen Initiativen und dem laufenden Kerngeschäft zu bauen. Agilität und Stabilität müssen im Gleichgewicht gehalten werden. Ebenso wichtig wie Innovationen sind Kooperationen. Schon früh wurde die Bedeutung von Kooperationsmodellen anstelle des Wettbewerbs erkannt und diskutiert. So wurde bereits 1996 der das berühmte Zitat geprägt “If you can’t beat them, join them!” (siehe Co-opetition, Brandenburger and Nalebuff, 1996).
Erinnern wir uns zunächst an das klassische Strategiedreieck. Es beschreibt die Austauschbeziehung zwischen Wachstum, Rendite und Risiko. Jede Strategie muss sich für Schwerpunkte entscheiden und Trade-Offs in Kauf nehmen. Die weit verbreitete Konkretisierung der Strategie anhand der Balanced Scorecard berücksichtigt klassischerweise vier Dimensionen, die gegenseitig in einer Ursache-Wirkungs-Beziehung stehen:
Die Ausführungen zu Innovation und Kooperation legen nahe, dass gerade diese zwei Dimensionen in die Balance Scorecard aufgenommen werden sollten, so wie uns dies auch die folgende Darstellung verdeutlicht:
Analog zum Strategiedreieck schauen wir uns das Schadendreieck an. Auch dieses zeigt eine typische Austauschbeziehung, allerdings auf Ebene der Schadenerledigung:
Welches sind nun im Claims Management die grössten Herausforderungen?
Wird das klassische Schadendreieck um diese Aspekte erweitert, präsentiert es sich wie folgt:
Das Geschäftsmodell der Versicherung kann als Formel, bestehend aus drei Hauptkomponenten dargestellt werden:
Wir müssen davon ausgehen, dass aufgrund des zunehmenden Wettbewerbsdrucks die Prämienumsätze unter Druck geraten. Weiter müssen wir davon ausgehen, dass die Unsicherheit bei den Anlageerträgen hoch bleibt, bzw. die Rendite je nach Entwicklung auf Kapital- und Immobilienmärkten sinkt. In der logischen Konsequenz gewinnt die Beeinflussung des Gewinns über den Schaden- und Verwaltungsaufwand an Bedeutung.
Erfreulicherweise darf einleitend festgestellt werden, dass der Bundesrat die Bedeutung der Blockchain erkannt hat. Im Januar 2018 rief er eine Arbeitsgruppe ins Leben. Sie beschäftigt sich mit rechtlichen Rahmenbedingungen und soll entsprechenden Handlungsbedarf eruieren. Der Bundesrat zielt darauf ab, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es der Schweiz ermöglichen, weltweit eine bedeutende Rolle im Thema Blockchain zu übernehmen. Der interessierte Leser findet die Details dazu in der Medienmitteilung des Staatssekretariats für Internationale Finanzfragen im Eidgenössischen Finanzdepartement (“Arbeitsgruppe wird ins Leben gerufen”, 18.01.2018).
Ohne zu tief in die Details der Technologie einzusteigen, soll an dieser Stelle kurz auf einige technische Aspekte eingegangen werden. Beginnen wir mit den wichtigsten Eigenschaften der Technologie:
Jeder Block wird in einer Netzwerkstruktur dezentral gespeichert. Dabei werden mehrere Transaktionen anonymisiert und zu einem Block zusammengefasst. Das wohl bekannteste Beispiel für eine public Blockchain dürfte die Überweisung eines Bitcoins sein.
In der Bitcoin-Blockchain werden mehrere Transaktionen zusammengefasst. Dies tun sogenannte Miner, welche Rechenkapazität zur Verfügung stellen und einen Hash-Code (kryptografische Sicherung der Information) finden, um den Block bilden zu können. Das gesamte Netzwerk prüft die Transaktion und gibt sie so frei, dass sie an die bestehenden Blöcke angefügt bzw. eben verkettet wird.
Würde ein Hash-Wert verändert, würden dies die Miner erkennen. Sie erhalten für diesen Proof-of-Work-Prozess eine Entschädigung in Bitcoins. Die Kritik an diesem Verfahren bezieht sich auf die Rechenleistung, die zu viel Zeit in Anspruch nimmt und viel Energie konsumiert. Die Technologie ist aber sicher, weil alle Informationen in der Blockchain gespeichert sind und die Transaktion nur ausgeführt wird, wenn mindestens 51 % im Konsensusprozess der Transaktion zustimmen. So ist z.B. sichergestellt, dass ein Bitcoin nicht zweimal überwiesen werden kann (Double Spending).
Voraussetzung für eine private Blockchain ist, dass es mehrere Partner in einem Ökosystem gibt, die im Rahmen einer definierten Netzwerk-Governance zusammenarbeiten. Beispiele sind die Zusammenarbeit von Versicherern mit Strassenverkehrsämtern oder etwa die Zusammenarbeit zwischen Brokern und Versicherern. Heute findet diese über einen Datenaustausch über Standard-Schnittstellen und XML-Dateien gemäss Vorgaben der IGB2B statt. Mit der Blockchain entfällt ein Intermediär, welcher die Richtigkeit der Daten sicherstellt. Die Bereitstellung der Daten durch die Versicherung entfällt allerdings nicht. Hingegen ändert sich die Rolle einer Institution wie in diesem Beispiel der IGB2B. Die Interessensgemeinschaft wird zum Provider, der die Blockchain-Infrastruktur für die private Blockchain zur Verfügung stellt.
Notwendig bleibt jedoch eine auf Internet aufbauende Infrastruktur wie z.B. Hyperledger (OpenSource). Diese wird von Technologiefirmen wie IBM oder Adnovum zur Verfügung gestellt, um auf der nächst höheren technischen Schicht Applikationen realisieren zu können.
In der Anwendung der Blockchain Technologie können auch sogenannte Token ausgegeben werden. Bei einem Token handelt es sich um eine Art Coupon, mit dem ein Recht verknüpft wird. Die Ausgabe von Tokens kann in Form eines Inition Coin Offerings erfolgen, in Anlehnung an die Initial Public Offerings, den streng regulierten Börsengängen.
Aus Sicht der Regulatoren ist die Unterscheidung verschiedener Typen von Token relevant. Die schweizerische Finanzmarktaufsicht (FINMA) hat dazu folgende Unterscheidung festgehalten:
Der Nutzen lässt sich am besten anhand geeigneter Use Cases demonstrieren.
Der Versicherer verliert seine klassische Rolle als Ansprechpartner für den Kunden, so wie auch ein Broker als Intermediär nicht mehr erforderlich ist. Den Versicherer als Leistungsträger, in diesem Beispiel die Atlas Insurance in Malta, benötigt es nach wie vor. Dies könnte in Zukunft aber auch ein Rückversicherer sein, der die notwendige Kapazität zur Verfügung stellt (Risikotransfer). Hingegen ist der Broker als Intermediär in diesem Beispiel nicht mehr erforderlich.
D.h. der Claims Prozess ist noch immer vorhanden, er läuft jedoch vollständig automatisiert über den im Smartcontract enthaltenen Code ab. Voraussetzung ist aber das funktionierende Ökosystem mit unterschiedlichen Beteiligten. Ist die Zahl der Beteiligten gering, dürfte Blockchain nicht zwangsläufig konkurrenzfähig zu zentralen Datenbanklösungen sein.
Das Beispiel des Car-Dossiers zeigt, wie sich potentiell der Nutzen durch die hohe Anzahl der Beteiligten ergeben kann. Dabei geht es ausschliesslich darum, dank Blockchain Technologie eine höhere Prozesseffizent zu erreichen, was sich für die Kunden indirekt auswirkt (z.B. Kosten, Durchlaufzeiten, Reaktionszeiten etc.).
Wincasa beauftragte inacta, die Abwicklung der Mietkaution als Proof of Concept zu realisieren:
Die Blockchain Technologie ist nicht simpel. Wer sie einsetzen will, sollte sie verstehen und beherrschen. Blockchain ist auch nicht zwangsläufig günstig. Hier sind insbesondere die Transaktionskosten auf public Blockchains im Auge zu behalten und zu prüfen, ob sich der Business Case noch rechnet. Blockchain macht auch nicht in jedem Fall Sinn und kann juristische Fragen aufwerfen. So stellt die Unveränderbarkeit in der Blockchain ein Widerspruch zum in der General Data Protection Regulation (GDPR) verankerten Recht auf Vergessen dar. Personendate eigenen sich also nicht zur Speicherung in der Blockchain. Ausserdem sind organisatorische und geschäftspolitische Fragen zu beantworten. So ist die Implementierung von Smartcontracts erst dann möglich, wenn die Standardisierung der Verträge inhaltlich vollzogen wurde. Und der Aufbau einer private Blockchain zur Effizienzverbesserung in einem Ökosystem verlangt zwingend, dass sich die zusammenwirkenden Partner im Ökosystem über die anzuwendenden Regeln einig werden.
Aus den dargelegten Gründen gewinnt das Claims Management an Bedeutung im Geschäftsmodell der Versicherungen. Wenn auch die Blockchain Technologie nicht für die Lösung aller Probleme geeignet ist, so doch zur Effizienzsteigerung in Ökosystemen und insbesondere bei der Vollautomatisierung in der Abwicklung mittels Smartcontracts. An diesen Punkt treffen sich Claims Managment und die Blockchain Technologie, welche sich in der Schadenabwicklung dringend als wesentliches Hilfsmittel zur Automatisierung empfiehlt.
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