Access to Justice mit ODR? Mehr Service, weniger Ort!
November 25, 2021
Folgender Blogbeitrag wurde von Student Rainer Deecke im Rahmen des CAS Legaltech verfasst und enthält subjektive Färbungen. Bewertet wurde der Beitrag von Studiengangsleiter Ioannis Martinis und redigiert von der Redaktion des Institute for Digital Business.
Wer denkt schon nicht an ehrwürdige und imposante Hallen und Säle, Richter in langen schwarzen Roben und Anwältinnen und Anwälte, die flammende Plädoyers halten, wenn er sich ein Gericht vorstellt? Davon werden wir uns allerdings in den kommenden Jahren und Jahrzehnten verabschieden müssen. Genau so wie klassische Reisebüros oder auch Läden durch die Onlinekonkurrenz verdrängt werden, werden in Zukunft physische Gerichtssäle in den Hintergrund rücken. “Online Gerichte” resp. alternative Streitbeilegungsverfahren werden das klassische Gerichtsverfahren ersetzen oder ergänzen. Das Ziel ist gesetzt: Access to Justice für alle!
Eine einheitliche Definition gibt es (noch) nicht. Unbestritten ist, dass für die Streitbeilegung elektronisch-informationstechnologische Mittel eingesetzt werden. Umfasst sind nicht nur staatliche Gerichte, sondern auch aussergerichtliche, alternative Streitbeilegungsverfahren. Solche aussergerichtlichen Methoden stehen momentan sogar im Vordergrund. Insofern ist ODR eine online basierte Form von ADR (Alternative Dispute Resolution). Je nach Grad und Ausbau der technischen Komponente, werden verschiedene Stufen unterschieden.
Im Kern geht es bei ODR um den Zugang zu Gerechtigkeit. Jede rechtssuchende Partei soll jederzeit kostengünstig und schnell eine Streitigkeit einer Lösung zuführen können. Jeden Tag entstehen unzählige Streitigkeiten mit geringem Streitwert, die nie vor einem staatlichen Gericht landen. Das Kostenrisiko steht in keinem Verhältnis zum möglichen Prozessgewinn. Es besteht somit ein “rationales Desinteresse”, solche Fälle vor ein Gericht zu bringen. Im Zuge des stetig wachsenden Online-Handels wird die Problematik zunehmen. 3-5% der Online-Transaktionen enden in einem E-Commerce Streit. Global sprechen wir von 700 Millionen Fällen im Jahr – ein gewaltiger Markt. Aufgrund der derzeitigen technologischen Möglichkeiten eignen sich Fälle mit tiefem Streitwert und standardisierten Abläufen am besten für ODR. Wenn die Parteien sich bereits auf einer Plattform befinden (bspw. Ebay), ist das Interesse an einer einvernehmlichen Lösung grösser. Besonders geeignet sind zudem Fälle mit grenzüberschreitendem Sachverhalt im E-Commerce Bereich.
Währendem die fehlerhafte Bedienung der Technik durch den Menschen lösbar ist, stellt die (Rechts-)Verbindlichkeit von ODR Verfahren eine grosse Herausforderung dar. Auch die sog. “Userbility” von ODR Plattformen muss ein gewisses Niveau erreichen. Wie man es nicht machen sollte, zeigt die Online Streitbeilegungs-Plattform der EU. Zwar gibt es ca. 160’000 Anfragen im Monat, allerdings werden bloss 2000 davon tatsächlich reguliert. Das komplizierte Verfahren scheint viele Rechtssuchende abzuschrecken. Neben Bedenken, die den Datenschutz und die Datensicherheit betreffen, liegt auf technischer Seite eine Gefahr im sog. Machine Bias. Durch die Datenanalyse können Vorurteile und Stereotypen din Algorithmen übernommen werden. Immerhin ist entgegenzuhalten, dass auch Richterinnen und Richter aus Fleisch und Blut nicht nur objektiv sind. Auch sie werden von äusseren und inneren Faktoren beeinflusst (bspw. Confirmation Bias, Hofeffekt, Primacy Effekt, Recency Effekt, usw.).
Bis sich ODR Gerichte in der Schweiz etabliert haben, wird es noch dauern. Hierzulande scheint das richtige Mindset noch nicht vorhanden sein. Das Bundesgericht entschied kürzlich, dass eine Hauptverhandlung nicht gegen den Willen einer Partei online durchgeführt werden darf (BGE 146 III 194). Das Projekt Justitia 4.0 umfasst nicht, dass die Prozessparteien von irgendwoher “remote” partizipieren können. Das Bundesgericht hat sich zudem gegenüber entsprechenden Vorstössen des Bundesrats kritisch geäussert. Es bestehen Bedenken punkto Öffentlichkeit des Verfahrens, Datenschutz und Datensicherheit. Zudem wurden säumnisrechtliche Fragen aufgeworfen. In Ländern, wo der Datenschutz inexistent ist, sind staatliche Online-Gerichte bereits Realität. Dies zeigt das Beispiel aus China. Die aufgezeigten Bedenken hemmen in der Schweiz entsprechende Fortschritte auf staatlicher Ebene. Auch hier werden private Anbieter das Rennen machen. Dies ist im Sinne von Access to Justice zu begrüssen. Je “schneller”, je “besser”, auch wenn dies vorerst wohl bloss für kleinere Streitigkeiten Realität werden wird.
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