Datengesellschaft und Solidarität
Mai 25, 2020
Im digitalen Unterrichtsformat führte uns Isabelle Vautravers durch das Thema «Datengesellschaft und Solidarität mit Blick auf Versicherungen und Gesundheit». Wir bekamen dabei einen Einblick in die Arbeit der Stiftung Sanitas Krankenversicherung, die sich mit der Solidarität in der digitalen Welt beschäftigt. Mit einer Kurzumfrage tauchten wir in das Thema ein.
Wie beurteilst du folgende Aussage? Personen, die sich fit halten und sich gesund ernähren, sollen weniger Krankenkassenprämien zahlen als andere.
Unser Leben als Individuum und als Teil der Gesellschaft wird von Daten beeinflusst. Immer mehr persönliche Daten stehen zur Verfügung, insbesondere zu unserer Gesundheit und unserem Gesundheitsverhalten. Die Daten können gemessen, gespeichert, analysiert und geteilt werden. Auch die Anreicherung von Daten (Daten aus verschiedenen Kontexten werden in Bezug gesetzt), künstliche Intelligenz und Entscheidungen durch Algorithmen sind Teil des technischen Fortschritts und unseres Lebens.
Der Datengesellschaft eröffnen sich neue Möglichkeiten, weshalb es eine Diskussion über bestehende Werte braucht. Es geht darum, wie wir den digitalen Wandel gestalten wollen, welche Werte tangiert sind, welche Auswirkungen der Wandel auf unsere Werte hat, welche Werte für uns grundlegend sind und wie wir damit umgehen. Dabei stehen folgende Werte im Zentrum der Diskussion: Freiheit, Selbstbestimmung, Würde, Fairness/Gerechtigkeit, Solidarität, Transparenz.
Man kann Solidarität als Verbundenheit der Einzelperson mit einer bestimmten Gruppe verstehen. Solidarität kann aber auch viel weiter gefasst werden. Dabei geht es um Chancengleichheit, die alle Menschen als Mitglied der Gesellschaft erreichen sollen.
Der Soziologe Stefan Selke beschreibt in einem Interview Solidarität im Zusammenhang mit Selbstvermessung. Er spricht vom Phänomen «Lifelogging oder Lebensprotokollierung». Gemäss Selke sind Menschen, die gesund leben und dies mit digitaler Vermessung nachweisen können (Tracking-Geräte), weniger bereit, ungesundes Verhalten anderer Personen und damit verbundene Krankheitskosten mitzutragen. Die solidarische Risikogemeinschaft geht so verloren.
Im Zusammenhang mit «Versicherung und Gesundheit» sowie der Verfügbarkeit von personalisierten Daten sind die folgenden ethischen Prinzipien für eine Gesellschaft wichtig. Sie stehen im Zusammenhang mit dem Begriff «Solidarität».
Eine wichtige Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität spielt der «Schleier des Nichtwissens». Es ist ein Element der Gerechtigkeitstheorie des Philosophen John Rawls. Die Aussage ist, dass faire Regeln für die Gesellschaftsordnung entstehen, wenn die Mitglieder nicht wissen, wo sie in dieser Ordnung stehen oder stehen werden bzw. wie sie betroffen sein werden. Sie fokussieren nicht auf ihre individuelle Situation, sondern denken allgemeiner. Somit ist es einfacher einen gemeinsamen gesellschaftlichen Konsens zu finden. Das Nichtwissen, das alle Menschen gleich macht, ist also eine wichtige Grundlage für den Ausgleich zwischen unterschiedlichen Gruppen einer Gesellschaft. Die Solidarität kann nur aufrechterhalten werden, wenn gewiss Informationen nicht berücksichtigt werden.
Das Solidaritätsprinzip im Gesundheitswesen basiert auf der Idee der Schicksalshaftigkeit. … Wer seine Gesundheit für sich alleine voraussehen und optimieren kann, braucht die anderen nicht mehr. Dies führt unweigerlich zu eine Entsolidarisierung. Das Solidaritätsprinzip könnte also beginnen, sich aufzulösen, wenn wir nichts mehr gemeinsam haben. (Durch die Digitalisierung hat eine Emanzipation von Randgruppen stattgefunden, Gespräch mit Felix Stalder, 2019, Diskussionsbeiträge WIRE und Stiftung Sanitas, www.sanitas.com/stiftung)
Mit der digitalisierten Aufzeichnung unserer Lebensspuren ergeben sich neue Möglichkeiten der individualisierten Risikobeurteilung, insbesondere im Gesundheitsbereich. Aufgrund der Digitalisierung wäre es möglich, den Schleier des Nichtwissens in vielen Themen zu lüften: Sind wir bereit, solidarisch zu zahlen für «individuelle Freiheit» (selbstbestimmt gewähltes Verhalten der einzelnen Person wie zum Beispiel schlechte Ernährung und keine oder mangelnde Bewegung)? Oder führen Digitalisierung und Big Data zu einer Entsolidarisierung, findet eine langsame Veränderung des ethischen Rahmens statt?
Die Stiftung Sanitas führte 2020 zum dritten Mal eine repräsentative Bevölkerungsbefragung zum Thema «Datengesellschaft und Solidarität» durch. Erstmals werden verhaltensabhängige Prämien in der Krankenversicherung von der Bevölkerung befürwortet.
Im letzten Teil des Unterrichtsblocks stellte uns Isabelle den Stakeholderdialog der Stiftung Sanitas vor. Die Stiftung hat mit Versicherungsunternehmen, Unternehmen der (Tele-) Kommunikationsbranche, Konsumentenorganisationen, Datenschutz, Think Tanks und Hochschulen einen Dialog zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung (mit Fokus Solidarität) angestossen. Ziel ist die Erarbeitung eines gemeinsamen Dokumentes zur digitalen Verantwortung und Solidarität in der Versicherung.
Diese Initiative der Stiftung Sanitas ist eine von mehreren, die aktuell in der Schweiz laufen. Die Wirtschaft, die Zivilgesellschaft und auch Hochschulen und Think Tanks beschäftigen sich mit den Themen Datengesellschaft, digitale Verantwortung und Werte. Es braucht von der Zivilgesellschaft (inkl. Konsumenten), Wirtschaft, Politik und Wissenschaft eine verstärkte gesellschaftliche Debatte mit Werteüberlegungen. Dabei spielen vielfältige Perspektiven eine wichtige Rolle.
Der digitale Wandel führt dazu, dass die Gesellschaft dringend ihre Werte im Zusammenhang mit den Möglichkeiten des technologischen Fortschritts diskutieren und teilweise neu entscheiden muss. Die Anpassung gewisser Werte werden aufgrund des Wandels wahrscheinlich sein. Es geht um die Frage, wie wir den digitalen Wandel gestalten, welche Werte für uns wichtig sind, wir wir leben wollen. Der Wert Solidarität und unser Verständnis davon sind zentrale Diskussionsthemen einer Datengesellschaft.
Dieser Blogbeitrag wurde von einem Studierenden verfasst und beinhaltet subjektive Eindrücke, eigene Darstellungen und Ergänzungen.
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