Institute for Digital Business

Digitale Gewalt ist Gewalt

Von Jolanda Spiess-Hegglin, November 1, 2022

Bildquelle: Anne Gabriel-Jürgens

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Über die Existenz von digitaler Gewalt muss ich heute zum Glück nicht mehr diskutieren. Vor drei, vier Jahren war dies noch anders und auch immer wahnsinnig anstrengend. Heute rede ich darüber, was digitale Gewalt bei Betroffenen auslöst. Und das in Endlosschlaufe, bis irgendwann digitale Gewalt einfach Gewalt ist und entsprechend im Gesetz festgeschrieben wird. Aktuell – die Schweiz hat ein «Analog»-Gesetz aus dem letzten Jahrhundert – ist dies aber ein etwas schwieriges Thema. Obwohl wir uns seit 30 Jahren mit dem Internet beschäftigen und viele von uns seit 15 Jahren online vernetzt sind, tun wir bei digitaler Gewalt noch immer so, als sei dieses Internet Neuland und die negativen und bedrohlichen Seiten davon halt naturgegeben. Aber das ist falsch.

Analoge Gesetze in einer digitalen Welt

Wer online gejagt, blossgestellt und gestalkt wird, kann sich lediglich auf Gesetzesartikel wie «üble Nachrede» oder «Missbrauch einer Fernmeldeanlage» berufen. Nein, das ist kein Scherz. Die Artikel heissen wirklich so. Mein bisher absurdestes Erlebnis: #NetzCourage gelang es, die rein digitalen Belästigungen eines Stalkers so akribisch zu dokumentieren, dass das Zürcher Gewaltschutzgesetz zur Anwendung kam – zum ersten Mal überhaupt in einem digitalen Fall. Zum Glück wohnt dieser Stalker im Kanton Zürich. Denn in der Schweiz ist es lediglich in Zürich und zwei weiteren Kantonen möglich, sich gegen Stalking von Fremden schnell zu wehren. Nun wurde dieses digitale Stalking also realem Stalking gleichgesetzt – was erfreulich ist – und das Gericht ordnete eine Massnahme an. Jetzt wurde es absurd. Die Massnahme ist vordefiniert und entspricht einem Kontakt- und Rayonverbot, leider jedoch einem rein analogen.

Antifeministische Radikalisierung

Mit #NetzCourage betreten wir noch immer oft Neuland, obwohl dieses Internet doch schon ein paar Jahrzehnte zu unserem Alltag gehört. Was jedoch weitaus anstrengender ist als Gerichtstermine mit Stalkern oder das Suchen passender Gesetzesartikel: die Radikalisierung im Internet. Schon mal den Begriff «Incel» gehört? Incels sind meist junge Männer, welche Frauen hassen. Die Bezeichnung setzt sich aus «involuntary» und «celibate» zusammen und bedeutet: unfreiwillig zölibatär. Es sind Männer, welche keine Sexualpartnerin finden und das nicht nur als Blamage und Kränkung empfinden, sondern als Schicksal, das nach Sühne verlangt. Damit legitimieren sie ihren generalisierten Hass auf alle Frauen. So weit, so beunruhigend. Aber glücklicherweise reden wir von einem Mikroanteil von Männern. Und dennoch: Frauenhasser vernetzen sich online aktuell in hohem Tempo – auch in der Schweiz. Im antifeministischen Kosmos radikalisieren sie sich bis hin zur Gewaltbereitschaft. Glücklicherweise wurde die Schweiz bislang von antifeministischen Terrorakten verschont. Vergangene Attentate in Toronto, Isla Vista und Hanau wurden von bekennenden Incels begangen. Auch der Täter von Utøya und der Attentäter auf eine Synagoge in Halle waren Incels. Letzterer streamte seine Tat live auf Facebook und hörte währenddessen ein Lied aus der Incel-Szene, welches sich auf die Amokfahrt von Toronto bezieht. Die Täter werden auf Facebook und in Internetforen als Helden gefeiert. Medial wurden diese Männer jedoch als psychisch kranke Einzeltäter oder Rechtsradikale eingeordnet. Was viel zu kurz greift. Wird von Extremismus gesprochen, so stehen religiöse und politische Radikalisierung im Vordergrund, nicht aber die radikale Szene der Frauenhasser. Das Sichtbarmachen dieser Gewalt als geschlechtsspezifischer Extremismus wäre aber für Prävention und Intervention von entscheidender Bedeutung. Mit jedem Tag vergrössert sich der Kosmos der Incels im Netz: eigene Seiten, eigene Sprache, eigene Kultur. In den letzten Jahren häuften sich koordinierte Online-Mobbingkampagnen gegen Frauen.

Die Aggressoren können sich in ihrer Netzgemeinschaft mit ihren Taten grösser und bedeutsamer machen, als sie es in der analogen Welt sind.

Das Netz verschafft Omnipräsenz. Jede kleinste Handlung wird aufblasbar zu Globalgrösse, und das in Lichtgeschwindigkeit. Je extremer, desto mehr Anerkennung.

Digitale Gewalt reduzieren und Betroffene unterstützen

Um diese Subkultur sichtbar zu machen, einzuordnen und Lösungswege zu erarbeiten, haben wir, gemeinsam mit dem Verein männer.ch das Projekt #EscapeManosphere geplant. Natürlich wäre solches nicht die Aufgabe von gemeinnützigen Organisationen. Aber wir können viel schneller handeln und uns an Themen wagen, welche Bundesstellen niemals bearbeiten würden. Eine finanzielle Beteiligung des Bundes fragten wir dennoch an. Vor Kurzem kam die Absage mit der Begründung, das Thema habe keine Priorität. Keine Pointe. Das dachten viele auch beim #NetzPigCock. Doch dieser legte einen Raketenstart hin. Mit dem Anzeigetool von #NetzCourage kann man ungefragt erhaltene Penisbilder innerhalb von 60 Sekunden zur Anzeige bringen. Wer solche pornografischen Bilder zugeschickt erhält, kann diese auf www.netzpigcock.ch niederschwellig zur Anzeige bringen. Formular ausfüllen, Foto hochladen, PDF ausdrucken, unterschreiben und ab die Post. #NetzCourage übernimmt das Porto. Allein im ersten Monat von #NetzPigCock wurden 1‘178 Strafanträge generiert – eine schockierende Zahl, welche die Grösse des gesellschaftlichen Problems sichtbar macht. Früher mussten Betroffene mit einem ausgedruckten Bild auf den Polizeiposten und fürs Protokoll rund zwei Stunden einplanen. Für #NetzPigCock erhielt ich im September 2021 den FemBizSwiss-Award in der Kategorie Innovation. Es war mir eine riesengrosse und unerwartete Ehre. Und die beste Motivation für weitere Innovationen, um die Situation für Betroffene von digitaler Gewalt ein wenig erträglicher zu machen.

 

 


About the Author: Jolanda Spiess-Hegglin

Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins #NetzCourage (www.netzcourage.ch), welcher als einzige Organisation in der Schweiz die digitale Gewalt bekämpft und aufarbeitet. Sie ist Dozentin im CAS Digital Ethics.

Jolanda Spiess-Hegglin ist immer unter Strom, aber in der Pestalozzi-Bibliothek kommt sie zur Ruhe.

 

Für unser Yea(h)rbook 2022 haben inspirierende Persönlichkeiten aus dem nahen Umfeld des Institute for Digital Business einen Fachbeitrag verfasst. Für den Fall, dass du den Beitrag in gedrucktem Format noch nicht lesen konntest, teilen wir ihn hier auf unserem Blog noch einmal digital. 

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